Echos – wenn es immer wieder kommt. (Teil 2)

Artwork von selcharan (https://www.instagram.com/selcharan/?hl=de)

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Liebe Leser:innen, dieser Beitrag ist Teil 2 der Themenreihe Schienensuizid.
Der vorhergehende Beitrag ist folgender: Wenn sich von Jetzt auf Gleich Leben ändern.

Tock.

Ich höre es wieder und wieder, während ich auf die Dinge harre, die nun kommen, nachdem der Fahrdienstleiter während des Rückrufes mit mir sprach und dann die vorgeschriebene Ereigniskette in Gang setzte. Stille.
Tock.
Ich warte auf die Notfallkräfte und blicke mich in der Lok um. Prüfe die Leuchtmelder, kontrolliere den C-Druck am Manometer des Bremszylinders, nehme die Bedienhebel auf dem Führerpult in Augenschein. Ich merke es mir nicht, denn ich schaue kurz darauf wieder hin.

Tock.

Echos

Das Aufprallgeräusch verfolgt mich auf der Lok. Wieder prüfe ich die Anzeigen, Bedienelemente, die Unterlagen. Mein Kopf verunsichert mich selbst, in dem er Versagensszenarien herbeidenkt. Ich setze mich wieder und schließe kurz die Augen, versuche mich zu fokussieren.
Tock. Lächelndes Gesicht.
Aufstehen und umherlaufen; Fenster öffnen: Sauerstoff. Kalte Luft belebt in der Nacht. Die kühle Nachtluft tut gut, wirbelt Sauerstoff in den Führerraum und mein Kreislauf läuft wieder etwas an. Wenigstens hat er gelächelt – vielleicht hätte ich ein in Todesangst verzerrtes Gesicht nicht so schnell vergessen. Andere Erinnerungen bleiben in ihrer Klarheit. Während ich meinen Dank hierfür in die geistige Welt sende, setze ich den inneren Versagensszenarien ein Nein entgegen. Als Lokführer im Güterverkehr weiß man um den langen Bremsweg, die Trägheit des Bremssystems eines Güterzuges und dass der Bremsweg auch bei bestmöglicher Bremsung 1.000 Meter betragen kann. Vielleicht habe ich ihn in 20 oder 30 Metern Entfernung aufstehen sehen. Kollegen erzählten, dass sie in solchen Fällen schon die Schnellbremsung einleiteten, das Sichtrollo herunterzogen und sich die Ohren zugehalten haben … bis alles vorbei ist.

Tock.

Echos

Das EBuLa-Boordgerät zeigt mir auf einem Monitor den Fahrplan meines Zuges an. Ich blicke ihn an, lese die Namen der Bahnhöfe, die auf meinem Fahrtverlauf liegen und kann sie nicht zuordnen. Ich fühle mich wie mein eigener Beobachter und greife zum Handy, um die Leitstelle des Kunden anzurufen, dessen Zug ich gerade steuere. Ein Ereignis ist meldepflichtig, außerdem müssen Leistungen eventuell umgeplant werden, Zugläufe passen vielleicht nicht mehr, Ablösepläne kommen durcheinander … da greift je nach Verzahnung viel ineinander. Dann rufe ich meine eigene Disposition an und melde den Vorfall auch hier. Keine zehn Minuten später spricht unsere firmeneigene Ersthilfekraft mit mir und es kommt etwas Leben in die leblose Stimmung, die aufgekommen war.

Tock.

Unterstützung

Das Gespräch mit der Ersthilfekraft belebt mich etwas, macht mir die weichen Beine etwas stabiler, richtet mich auf. Die Schuldfrage habe ich gleich selbst beantwortet, weil es sich aus der Ablaufschilderungen des Ereignisses heraus ergibt. Hätte ich schneller reagieren können? Habe ich den Zug korrekt gesichert? Es wird anstrengend, die Kontrolle zu behalten und die Stimmen wegzudrücken. Habe ich gepfiffen, also das Makrofon bedient? Während meiner Ausbildung sah ich während einer Bahnhofsausfahrt zwei Kinder viel zu nah am Gleis spielen. Dort pfiff ich instinktiv und die Kids sprangen auf Seite – ohne den Pfiff hätte eine Familie ein Kind zu Grabe getragen. Ein weiterer und nicht erster Dank geht an die höhere Ebene. Heute habe ich nicht gepfiffen, weil alles so schnell ging. Es hätte in dieser Situation auch nichts geändert.

Tock.

Bei mehreren Bahnhofsdurchfahrten gab es knappe Momente, wo Menschen durch einen Pfiff noch den entscheidenden Meter auf Seite gingen. Mehr und mehr Situationen fallen mir ein, wo ich aufmerksam genug war und Unglücke nicht eingetroffen sind. Merkwürdig, woran der Kopf denkt, wenn man im Hochstress ist.

Tock. Ausgebreitete Arme.

Echos.

Währende die Rettungskräfte ihre eingeübte Routine abarbeiten, sich -so vermute ich- emotional etwas entkoppeln, weil Distanz zum wichtigen Fokus auf das Wesentliche führt, sitze ich halb auf dem Sitz am Führerpult und halte kurze, knappe Gespräche mit verschiedenen Rettungskräften. Niemand ist unfreundlich, es geht um die Sache, manche sind überfordert mit mir in dieser Situation, überspielen es mit professioneller Miene; ich verstehe das. Vielleicht ist dies heute der erste Einsatz dieser Art für jemanden? Vielleicht einer zuviel? Die Passivität setzt mir zu, mein Kopf dreht weiter seine Runden, prüft Instrumente, Arbeitshandlungen, hinterfragt. Wie war der C-Druck nochmal? Ist die Bremse angelegt? Habe ich alle angerufen?

Ich mache mir Notizen und beginne damit meinen Arbeitsplatz aufzuräumen. Von der Lok abzusteigen ist keine Option, das Gewirr von Einsatzkräften, in Laternen- und Blaulicht gehüllt, schreckt mich ab, wirkt kühl und abweisend. Trotzdem erden mich die kurzen Gespräche ein wenig. Vielleicht gehen andere anders mit einer solchen Situation um?
Ich bin aber nicht jemand anderes. Ich bin ich und bei mir ist das jetzt eben so.
Mir geht die Vorstellung nah, dass heute der schlimmste Tag für einen Angehörigen sein wird.

Tock.

Ruhe zu Hause aber Unruhe in mir

Der erste Versuch an diesem Morgen, schlafen zu gehen, scheitert exakt in der Sekunde, als ich meinen Kopf auf das Kissen lege und die Augen schliesse.

Tock. Lächeln.

Das ist ja echt wie im Film, denke ich und richte mich wieder auf. Das Adrenalin kommt wieder hoch und ich fühle mich, als müsse ich den Zug nochmal anhalten. Ich verliere die Kontrolle über meine aktuelle Situation, kann Gedanken und Flashbacks nicht stoppen. Das Geräusch des Aufpralls kommt immer wieder und die Überfahrsituation ebenso. Der Tag wird innerlich zur Katastrophe. Irgendwann liege ich dann doch und schlafe über den Tag verteilt ein paar Stunden.

Am gleichen Tag schildere ich das Erlebte einem Durchgangsarzt – ein Orthopäde, weil er als Erster greifbar ist. Er soll mich nur krankschreiben, die Nachsorge übernehmen dann Spezialisten. Für ihn und seine Assistentin ist es die erste Berührung dieser Art mit einem Personenunfall im Bahnverkehr. Ich wechsle in eine Kontrollhaltung und erzähle vom Hergang, den Besonderheiten bei diesen Unfällen und wie das System Bahn grob funktioniert. Man begegnet mir mit einer Mischung aus menschlicher Neugierde, Sensationslust und professioneller Betrachtung. Es werden einige medizinische Facetten erläutert und mir wird hier zum zweiten Mal klar: der Aufprall hat gereicht.

Tock.

Es dauert zwei bis drei Wochen, bis die Geräusche und Bilder nicht mehr unkontrolliert aufblitzen. Während der Nachsorge wird dies als normal und akute Belastungsstörung bezeichnet. Mittlerweile sind sie als Erinnerung gespeichert.

Aus meiner Erfahrung heraus würde ich jedem empfehlen, von Anfang an hierüber zu sprechen und somit dem Erlebten Raum für Ausgesprochenheit zu geben. Es spielt keine Rolle, ob man Lokführer oder Rettungskraft ist: der Stress muss raus aus dem Körper. Der Kopf muss das Erlebte verarbeiten und früher oder später einen Haken daran machen. Sicherlich wird man sich immer hieran erinnern, aber es bleibt dann eine Erinnerung, die nicht die Kontrolle übernimmt und den Körper in den Stressmodus umschaltet.

Wichtig ist, das Hier-und-Jetzt offen und ernsthaft für sich selbst anzunehmen und für sich selbst achtsam mit aktuellen Geschehnissen umzugehen. Wenn etwas passiert, dass einen mehr oder weniger tiefen Einschlag im eigenen Leben erzeugt, ist es gleichsam so relevant für uns selbst, dass wir es uns anschauen müssen.

Hieraus entsteht Heilung.

Tock.

Stephan Keßler

Die Themenreihe Schienensuizid besteht aktuell aus folgenden Beiträgen:

Teil 1: Wenn sich von Jetzt auf Gleich Leben ändern.
Teil 2: Echos – wenn es immer wieder kommt. (dieser Beitrag)
Teil 3: Nachsorge und ein Thema das bleibt.
Teil 4: Wenn die Welt still steht.
Teil 5: Die Last der unaussprechlichen Trauer.

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