Wenn Ratschläge sich zu Erkenntnissen wandeln.

Leider habe ich zu spät damit begonnen, Feedback anderer Mitmenschen offen und aktiv einzufordern. Ich war einfach nicht bereit für die Wahrnehmung Anderer und deren Meinung über mich, mein Verhalten, meine Ansichten und besonders meine Fehler. Man merkt seinen Mitmenschen sofort an, ob sie empfänglich für ein offenes und ehrliches Wort sind (oder eben nicht) und damit hat meine Umwelt einfach auf die Art reagiert, die ich an den Tag gelegt habe. Die späte Erkenntnis hieraus: ich habe mich dadurch jahrelang um meine eigene Weiterentwicklung gebracht.

Vielleicht gehört eine späte Einsicht zum Prozess des Erwachsen-werdens dazu ebenso wie die Abkehr vom Rebell-sein oder der bahnbrechenden Erkenntnis, dass es nicht nur Schwarz und Weiß sondern eben auch Grau gibt. Vielleicht ist es auch mehr mein persönlicher Mount Everest, der kantige, staubige, riesige Stein auf meinem Lebensweg, der mir die Sicht versperrt. Es gibt eben immer Dinge, die man nicht wegzerren kann, so sehr man es auch versucht. Wer einen Schritt zur Seite machen kann, hat den Stein schon halb umrundet: welch‘ Glücksgefühl, wenn man auch mal um eine störende Sache herumtänzeln kann und dann merkt, wie viel einfacher das sein kann.

Und dann gibt es Hinkelsteine, die zentnerschwer auf dem Rücken lasten, bis man gramgebeugt, verzweifelt und blutverschwitzt unter ihnen dann doch in die Knie geht. Nur um festzustellen, dass man den schweren Drisskanten eigentlich gar nicht hätte schleppen müssen und auch nicht über so einen weiten Lebensweg hinweg. Ein solcher Hinkelstein lag mir jahrelang auf dem Buckel und jemand -vermutlich das Leben selbst- hatte in großen, tief eingekerbten Lettern das Worte Kritik auf diesem Klotz hinterlassen.

Kritik ist eine Kriegserklärung an das eigene Ego

Kritik! Mir gegenüber Kritik zu äußern war prinzipiell unangebracht. Mir, der Eminenz der Überheblichkeit, Lehrer der Unterrichtsstunde Klugscheissertum und von Geburt an Der Uneinsichtige genannt. Ein ungeheuerlicher Vorgang! Das ich selbst mehr und mehr für meine Umwelt zum Ungeheuer wurde, muss kaum Erwähnung finden. Dafür umso mehr die Tatsache, dass das Leben so etwas wie eine mächtige Waffe im Kampf gegen genau solche Wesenszüge einsetzt: Leidensdruck. Leidensdruck ist wie Wasser, dass den Stein aushöhlt, wenn man nur lange genug warten kann. Letztlich spielt die Zeit aber keine Rolle, denn der Leidensdruck gewinnt immer, und währenddessen er Dich in die Knie zwingt fragt er mit leisen Worten, fast spöttelnd:

Gibst Du freiwillig auf oder geht es in die nächste Runde?

Der Leidensdruck

Kritik war mir verhasst, unangenehm und persönliche Beleidigung in einem. Warum dies in mir so heftig reagierte, habe ich erst in den 30ern richtig verstanden: ich habe mich selbst so tief wertlos gefühlt, dass Kritik an dem bisschen Ich, was noch übrig war, sich anfühlte wie der finale Niederschlag, der letzte Rest. Mein Ego hat dann noch die Facette Selbstmitleid beigemischt und fertig war der leckere Gute-Laune-Cocktail. Heute weiß ich, dass Kritik an vielen Stellen einfach nur liebgemeinte Ratschläge waren und meine langen Gegenreden oder -angriffe, die stets folgten, die Distanz zwischen mir und ratgebenden Menschen erhöhte. Mit den Jahren verblassten die Ratschläge mir gegenüber zu müde erwähnten oder beiläufig gemachten Äußerungen.

Berufliche und private Entwicklungen bedingen sich

Da mein Weg der persönlichen Weiterentwicklung vor wenigen Jahren gut Fahrt aufgenommen hatte, ergab sich auch ein beruflich bedingter Entwicklungsprozess. Mit fiel es damals deutlich schwerer als heute, auf Entwicklungshemnisse Anderer weniger emotional zu reagieren, obschon der Weg an dieser Stelle für mich noch nicht abgeschlossen ist. Eines Tages befand ich mich mit meinem damaligen Coach in einem offenen, vertrauens- und wertvollen Austausch über die Frage, wie man mit Kollegen umgeht, die auf der einen Seite nicht den an sie gesetzten Ansprüchen genügen und zusätzlich durch deren Verhalten einen nicht geringen, unangenehmen Einfluss auf einen selbst ausüben. Ich hatte damals zudem Schwierigkeiten, mich entsprechend meiner Rolle zu positionieren und ein klares, effektives und zielgerichtetes Standing im Job an den Tag zu legen. Meine Frage war offen, klar und direkt formuliert und nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens, kam die Antwort meines Coaches kurz, knapp aber tiefgreifend:

Bleiben Sie bei sich.

A. H.

Der Satz an sich ist nichts Großes, er klingt langweilig, nebenbei erwähnt könnte er überhört werden. Damals hatte er (und ich bin mir sicher, dass dies so beabsichtigt war), zwei Ebenen, auf denen er wirken sollte: einerseits als unmittelbare, hilfreiche Empfehlung für mein weiteres Vorgehen im beruflichen Kontext und andererseits auf der tief persönlichen Ebene. Allerdings habe ich etwas länger gebraucht bis mir klar wurde, welch mächtiges Werkzeug dieser Satz sein kann.

Warum beschäftigen wir uns so oft mit dem Handeln, den Fehlern und Unzulänglichhkeiten unserer Mitmenschen? Lenken wir von uns selbst ab, indem wir das Unheil bei anderen suchen, um das eigene Unheil in uns selbst nicht betrachten müssen? Lieber andere kritisieren als selbst verletzt werden? Der Preis ist jedenfalls stark vermindertes Feedback von Außen und damit eine deutlich geringere Chance, dass uns der Kopf gewaschen wird, denn der juckt vor Läusen genauso wie bei anderen – aber es ist eben der eigene, um den man sich nur kümmern kann.

Danke, für diesen Satz, der mir heute noch Wegweiser bei der Wahrnehmung Anderer ist!
Stephan Keßler

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