Man ist kein Depressiver! Man hat Depressionen.

Als ich Torsten Sträter dies sinngemäß während eines Interviews sagen hörte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Meine emotionale Reaktion war deutlich und die meines Ego’s entsprechend distanziert: wieso bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Ganz einfach: weil ich mich mit Depressionen identifiziert hatte und es bewusst nicht mehr als Krankheit wahrnahm. Da sitzen also Torsten Sträter und Kurt Krömer in einem Interview (ist am Beitragsende verlinkt) und Krömer spricht Torsten auf seine öffentliche Äußerung an, an Depressionen zu leiden. Es beginnt ein offenes, schnell intimer werdendes und sehr respektvolles Gespräch über die Krankheit Depressionen mit vielen sehr persönlichen Nuancen beider Beteiligten. Es zeigt: öffentlich zu dieser Krankheit zu stehen ist teilweise immer noch mit einem Stigma versehen und die innere Haltung hierzu kann sehr ambivalent sein – beides weiß ich aus eigener Erfahrung.

Weckruf

Was Kurt am Anfang des Interviews machte, musste kalt erwischen: sofortige Konfrontation. Nicht jedoch um Torsten Sträter vorzuführen, sondern um dessen Beichte zu bestätigen: „Ich hatte/ habe auch Depressionen.“ Schon dies ist grundsätzlich mutig, obschon es gleichsam unnötig sein sollte, hierfür Mut aufbringen zu müssen. Depressionen sind leider noch immer bei vielen Menschen negativ belegt und abwertende Charakterisierungen hört man doch immer wieder. Wie Torsten richtig anführt: es ist eine Krankheit die chemisch bedingt ist und demzufolge einen Einfluss auf den gesamten Organismus Mensch hat. Als Kurt davon erzählt, wie überfordert er mit Alltäglichkeiten wie Einkaufen oder Telefonieren/ Sich kümmern war, hat mich das an meine Schwierigkeiten erinnert, die ich früher ganz schlimm hatte und ab und an heute immer noch wie eine Hürde vor mir sehe, über die ich an schlimmen Tagen nicht drüber komme.

Antriebslosigkeit vs. Kraftlosigkeit?

Keine Kraft für den Tag zu haben ist mir ebenfalls bekannt, zusätzlich zur Antriebslosigkeit: man kann sich nicht Aufraffen. Auf der einen Seite, weil man keine Kraft hat und auf der anderen weil man nicht kann. Was paradox klingt ist in der eigentlichen Bedeutung folgendes: der fehlende Antrieb ist gleichwohl ein Ergebnis aus Kraftlosigkeit und einer tiefen Resignation, die aus gescheiterten Versuchen und einer daraus entsprungenen, sehr pessimistischen Sichtweise resultiert. Ich bin so oft aufgrund fehlender Antriebslosigkeit gescheitert, dass ich schon keinen Antrieb mehr mobilisieren konnte, weil mich das Scheitern so stark ins Resignativ niedergedrückt hatte. Ein sehr belastender Teufelskreis, obschon die eigentlichen Ursachen natürlich und wie bereits erwähnt, chemischer Natur sind. Der alleinige Versuch über eine positivere Lebenseinstellung allein wieder zu (Antriebs-)Energie zu gelangen wird in allen schweren Fällen wohl scheitern.

Es gibt viele Sinnbilder, um Nichtbetroffenen das innere Gefühl während (oder mit) Depressionen näherzubringen, aber meistens bleibt nur ein intellektuelles Verständnis haften, denn man kann sich nicht vorstellen, was los ist, wenn man einfachste Alltagsaufgaben plötzlich nicht mehr schafft und dann völlig verzweifelt. Der Leistungsanspruch unserer Gesellschaft resultiert meiner Meinung nach besonders aus den Ausprägungen der Berufswelt, die zum großen Anteil eine Leistungs-Identifikation erzwingt, einfach, weil man sonst nur schwer Karriere machen kann. Schon Karriere ist ein Leistungsmerkmal – die Leiter, auf der man emporsteigt die Versinnbildlichung von Wettkampf. Hieraus bilden sich hoch aufragende Hindernisse, von denen zudem erwartet wird, dass diese zu bewältigen sind. Scheitern ist vorprogrammiert und mit diesem ideologischen Wertesystem be-werten wir Menschen mit Depressionen. Mir persönlich ist aufgefallen, dass man tendentiell eher davon spricht, die Leistungsfähigkeit eines Erkrankten wiederherzustellen als davon, wieder glücklich zu sein. Für mich war genau das in den meisten Fällen der Knackpunkt: ich bin einerseits an den Folgen der chemischen Misskomposition als auch der Erwartungshaltung an Leistung und Disziplin gescheitert. Da wir mittlerweile mehr und mehr feststellen, dass Menschen vermehrt an Krankheiten wie Depressionen und Burn-out erkranken, mag man die Frage in den Raum stellen, ob dies nicht ein Zeichen dafür ist, dass wir mit dem Konzept der Leistungsgesellschaft in den roten Bereich fahren?

Verzweiflung, Resignation, Suizidgedanken

Auch Kurt Krömer und Torsten Sträter haben bestätigt, Suizidgedanken gehabt zu haben in den schlimmen Phasen. Ihre Erzählungen und Darstellungen kann ich selbst bestätigen: ab 15 oder 16 bis in meine Zwanzigerjahre hatte ich fast durchgehend und teilweise sehr schlimme Suizidgedanken, also den Wunsch zu sterben. Der Cocktail aus Minderwertigkeitskomplexen, Verzweiflung, Depressionen und Scheitern im Leben war nicht bekömmlich und auch die persönliche Identitätskrise sowie berufliche Ziellosigkeit führten letztlich zur völligen Resignation. Nach dem Ende der Beziehung zu meiner ersten großen Liebe, die immerhin drei Jahre hielt, fiel ich für zwei Jahre in ein tiefes Loch, weil der letzte positive Aspekt schließlich auch fort war. Die innere Wertlosigkeit führte zu einem Rückzug aus dem Berufsleben und auch privat war nicht viel mit mir anzufangen. Dennoch blieb ich kontaktfreudig (überwiegend über das Internet) und lernte in dieser Zeit einige Menschen kennen, die mich ein Stück begleiteten, mich dann aber doch wieder „verließen„. Deren Entscheidungen hierzu stehe ich in der Nachschau respektvoll und ohne Groll oder Vorwurf gegenüber. Ich war völlig verloren und überfordert mit mir selbst, dem Leben und Allem – vielleicht war es für mich und meinen Weg nötig, erst alles zu verlieren, um heute ein anderer Mensch sein zu können? Sozusagen aus einem Potential heraus den Drang zu entwickeln, Spannung abzubauen und damit in einen ausgeglichenen Fluß zu gelangen.

Klar ist aber auch: wenn man auf der Brücke steht und springen will, ist oft das Universum zur Stelle und streckt die Hand aus. Danke lieber Spaziergänger, für die Hand!

Therapien, Klinikaufenthalt

Da in meinem Leben immer hilfreiche Hände zur Verfügung standen, ergab es sich, dass ich zwar Therapien machen konnte, aber damals irgendwann so davon überzeugt war, selbst an all dem schuld zu sein, was weder funktioniert hatte noch gelingen mochte, dass ich als letzten Ausweg einen stationären Aufenthalt in Anspruch nahm. Raus aus allem und Flucht vor dem Leben, aber eben nicht als letzten Ausweg: es gab noch eine Abzweigung kurz vorher.

Durch den Klinikaufenthalt lernte ich mich hinsichtlich meines Freiheitsdranges nochmal ganz neu kennen: das eingesperrt-sein machte mir massiv zu schaffen. Das dauerhafte „drinnen-sein“ war nicht das Problem, aber ich hatte keine Entscheidung mehr zu treffen und war auf Kooperation mit den Pflegern, Therapeuten und Ärzten angewiesen. Der Weg raus war ohne einen klaren Selbstfokus nicht möglich. Vielleicht war dies die Initialzündung, von der Opferrolle wegzukommen und mir gegenüber selbstreflektierter aufzutreten. Wichtig war die Reduktion auf ein Minimum natürlich schon: entstressen, entlasten, befreien, runterfahren.

Klar ist, dass ich auch durch medikamentöse Hilfe wieder auf die Beine kam, was viele sich verändernde Lebensumstände nach sich zog. Ich bin allerdings überrascht, dass ich mich nach meiner Kindkeit an keinen Lebensabschnitt erinnern kann, der heiter, fröhlich und sorgenlos war. Vielleicht trage ich diese Depressionen immer noch in und mit mir und werde daher Überlegungen anstellen, wie ich mit dieser Erkenntnis weiterhin umgehe.

Man lebt im Hier und Jetzt und man entscheidet Jetzt, was Hier zu tun ist.

Ich

Ich bin kein Depressiver!

Durch das Interview wurde ich an meinem Selbstbildnis gepackt und gerüttelt, was ich als sehr wertvoll empfinde, denn es zeigt: schau nochmal genauer hin, analysiere und hole Rat. Neubewertung! Ich bin kein Depressiver, denn meine Ideologie, mein spirituelles Bekenntnis und meine Lebensziele haben nichts mit Depressionen zu tun. Die Krankheit steht dem im Weg, aber es ist nicht mein Weg. Ich habe zwar einen zur Melancholie hin geprägten Einschlag, aber eben aus genetischer Prägung. Meine Persönlichkeit ist grundsätzlich optimistisch eingestellt, lösungsorientiert ausgerichtet und voller Tatendrang. Nur wenn die Kraft fehlt, weil der Motor unrund läuft, tritt Antriebslosigkeit auf. Ich lebe gerne und schätze es, gefordert zu sein: hieraus entsteht Wachstum.

Lieber Torsten, lieber Kurt: vielen Dank für Eure offenen Worte und offene Position zum Thema Depressionen, danke für Euren Mut!
Stephan Keßler

Quelle:
Youtube: Chez Krömer – Zu Gast: Torsten Sträter (S04/E01)

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